Von A.H.
Heute beschäftigen sich meine KommilitonInnen und ich mit dem aufgeladenen Begriff des Nationalismus. Als Studierende der Politikwissenschaften ist dies im Grunde nichts Besonderes. Doch als Studierende an einer Universität in der Volksrepublik China kann es durchaus spannend werden. Die recht junge Professorin betonte zum Beginn des Semesters, dass es ihr in einem Kurs mit vorwiegend ausländischen Studierenden darum ginge, Brücken zu bauen und neue Perspektiven zu eröffnen – unklar bleibt, welche Themenfelder sie dabei genau meint. Um scheinbar eine solche Brücke zu bauen, bittet sie uns um Handzeichen. Auf der linken Tafelhälfte schreibt sie „good governance“ (dt.: gute Regierungsführung) in großer Schrift. Daneben „democracy“ (dt.: Demokratie). Sie gibt uns zu verstehen, dass diese Begriffe nicht komplementär zu verstehen sind, sondern antithetisch. Um es etwas greifbarer für uns zu machen, fragt sie uns gezielt, ob wir lieber in Indien (Demokratie vertretend) oder China (gute Regierungsführung vertretend) leben wollten. Zu einer Umfrage kommt es gar nicht erst im Hörsaal, verschiedene Kommilitonen ergreifen das Wort und sind ob des simplen ideologischen Unterbaus, dem die Frage zu unterliegen scheint, erschrocken. In diesem Moment zweifle ich bereits sehr an dem Erfolg der Lehrenden, noch eine Brücke des Verständnisses bauen zu können. Wie so oft sehe ich in den nächsten Minuten, wie Studierende und Professorin aneinander vorbeireden und nicht mehr Theorie und Evidenz im Vordergrund stehen, sondern ideologische Auseinandersetzungen. Ich sehe wie die EuropäerInnen im Hörsaal die Demokratie und liberale Gesellschaftsordnung verteidigen. Mit leichtem Bauchgrummeln, aber insgesamt zufrieden gehe ich an diesem Abend ins Bett. Ich bin mir sicher, dass meine Generation sehr wohl eine energische und progressive Vision von der Europäischen Union besitzt – und verteidigt.