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Von C.P.

„Mama, waiguoren, waiguoren!“ („Mama, Ausländer, Ausländer!“) So schallte es uns am vergangenen Wochenende einmal wieder aus vielen chinesischen Kindermündern in Tianjin, einer 15-Millionen-Stadt südöstlich von Peking entgegen. Wer als westliche/r Ausländer/in mit einer Familie mit Babys oder Kleinkindern – am besten mit blonder Haarfarbe – China jenseits von Peking und Shanghai bereist, ist sofort Mittelpunkt des Interesses. Insbesondere Großmütter stürzen sich auf die kleinen Kinder, berühren Haut und Haare und unterhalten sich über körperlichen Zustand, Kleidung (auch im Hochsommer bei über 30°C sind Socken zu tragen!) und wahrscheinliche Essgewohnheiten der kleinen Kinder. Obligatorisch ist das Fotoshooting, gerne auch mit der chinesischen Großfamilie. Irgendwann wird es unseren Kindern dann meistens zu viel, und sie fangen an zu weinen. Es ist anstrengend, ein Star zu sein, selbst für wenige Minuten.

Chinesen sind sehr kinderlieb und neugierig, wie an solchen Begegnungen deutlich wird (einen Exkurs über die Selbstsicht von Chinesen im Vergleich zu Ausländern, die nie als gleichwertige Gesellschaftsmitglieder akzeptiert werden würden, unterlasse ich an dieser Stelle). Kinder sind wertvoll in einer Gesellschaft, die seit Jahrzehnten der Geburtenkontrolle unterliegt, auch wenn kürzlich die Ein-Kind-Politik durch eine Zwei-Kind-Politik ersetzt wurde. Dementsprechend investiert die gesamte Familie viel Liebe, aber auch viel Zeit und Geld in den Nachwuchs. Dieser soll es unbedingt schaffen, in der hochkompetitiven chinesischen Gesellschaft einen Platz auf einer renommierten Universität zu erlangen. Die normale Schulbildung reicht dafür aus Sicht der Mehrheit nicht aus, so dass diejenigen, die es sich leisten können, ihre Kinder in private Förderschulen schicken. So sollen sie bessere Chancen bei der zentral organisierten staatlichen Universitätszulassungsprüfung am Ende der zwölfjährigen Schullaufbahn haben. Entsprechend kostspielig ist es, Kinder zu haben, so dass sich die Angehörigen der chinesischen urbanen Mittelschicht zumeist nur ein Kind leisten können, zumal die Vereinbarkeit von Familie und Beruf schwierig ist.

Der Umgang vieler Chinesen mit Kindern zeigt auch: Chinesen haben wenig Scheu, auf westliche Ausländer zuzugehen, viele tun dies selbstverständlich und mit einem natürlichen Selbstbewusstsein. Auch wenn man sich manchmal des Eindrucks nicht erwehren kann, wie ein seltenes Zootier behandelt zu werden, spüren zumindest westliche Ausländer kaum Rassismus oder Abneigung. Im Gegenteil: Die Neugier auf den Fremden überwiegt. Insofern ist es der aktuellen chinesischen Staats- und Parteiführung glücklicherweise noch nicht gelungen, mit ihren seit zwei Jahren recht intensiv betriebenen Kampagnen gegen die Infiltrierung der Gesellschaft durch angebliche „westliche Agenten“ latentes Misstrauen unter normalen chinesischen Bürger_innen zu erzeugen.

Aufstieg durch Bildung, Neugier auf den Westen bzw. das Fremde und Neue und Lust an der Kommunikation und am Austausch sind auch wesentliche Gründe, warum die Volksrepublik China so stark wie kaum ein anderes Land in den letzten 40 Jahren von der von Deng Xiaoping eingeleiteten Reform- und Öffnungspolitik sowie von der Globalisierung profitiert hat. Es könnte sich für Deutschland und Europa lohnen, diese Elemente wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts ernster zu nehmen als in der jüngeren Vergangenheit – wenn auch, gerade im Bildungssystem, mit humaneren Methoden.